Physical Modelling

KI kann sehr viele Dinge, die Menschen nicht können. So können riesige Datenmengen verarbeitet werden. Auch kann eine KI kleinste Nuancen in Daten extrahieren. Schießlich ist es eine objektive Beschreibung von z.B. Empfindungen, die in verbaler Beschreibungn sonst sehr subjektiv sind.

Abb. 1: Zeitreihen von Saxophon, Bass Drum, Cello und Becken (von oben nach unten) mit dazugehörigen Phasenplots

Trotzdem hat KI Beschränkungen. Eine Einschränkung ist, daß KI ein Gehirn simuliert. Wie wir kennt KI nur das, was man ihr angelernt hat. Sie hat damit immer eine beschränkte Sichtweise. Auch entstehen sogenannte Echokammern. Stellt eine KI ein Muster fest, dann wird dieses als typisch erkannt und einem Benutzer immer wieder vorgeschlagen. Dies entspricht einem Vorurteil, ist also sehr menschlich, aber oft nicht gewollt.

Vid. 1: 2D Echokammer. Simulation mittels Ray Tracing

Vid. 2: 3D Echokammer. Simulation mittels Ray Tracing

Dies wurde z.B. im sogenannten Predictive Policing ein Problem , welches in vielen Städten implementiert wurde, so auch in Los Angeles. Dabei schickt eine KI Polizisten zu bestimmten Zeiten an Orte, an dem die KI ein Verbrechen vorhersagt. Da an solchen Orten dann mehr Polizei vorhanden ist, werden dort auch mehr Verbrechen festgestellt, was die KI wiederum veranlaßt, immer noch mehr Polizisten in diese Stadtviertel zu schicken. In Los Angeles wurde daraufhin nach Bürgerprotesten das Predictive Policing wieder abgeschafft.

Eine Alternative zu KI, die solche Probleme umgeht, ist Physical Modeling. Dort werden die einzelnen physikalisch existierenden Teile eines Systems mit ihren Interaktionen als Modell der Wirklichkeit aufgestellt. Dies können Musiker in einem Ensemble sein, welche mit ihren Musikinstrumenten, mit dem Raum, in dem sie musizieren, und mit den Mitmusikern interagieren.

Abb. 2: Liveauftritt der Phantom Brothers im Starcub, der bis 1969 im Hamburger Stadtteil St. Pauli zu besuchen war
Abb. 3: Modell des Star Clubs
Abb. 4: Modellierung mit Sicht auf die Bühne

Dies können aber auch Einzelteile eines Musikinstruments sein, bei einer Gitarre also z.B. Saite, Decke, Boden, Luftinnenraum usw. Dies kann ein Gehirn sein, in dem einzelne Neuronen miteinander interagieren und wodurch die gesamte Gehirnaktivität entsteht. Dies kann auch eine gesamte Gesellschaft sein, also mit Einbezug von Wirtschaft, Politik oder internationalen Beziehungen. Da Physical Modeling die reale Physik modelliert kann dabei aber auch die Ökologie miteinbezogen werden, Tiere, Pflanzen, Wasser oder das Klima.

Vid. 3: Physikalische Modellierung der Gitarre als „digitale Gitarrenwerkstatt“

So funktioniert auch das Gehirn, in welchem Nervenimpulse zwischen Nervenzellen ausgetauscht werden, wobei eine Nervenzelle erst einen neuen Impuls aussendet, wenn es von anderen Nervenzellen angeregt wurde, diese also ihre Impulse an die Nervenzelle gesendet haben. Das Gehirn ist somit ständig dabei, sich zu synchronisieren und zu de-synchronisieren. In der Musik entspricht das musikalischer Spannung und Entspannung. Electronic Dance Music (EDM), Techno oder Dubstep bauen oft lange Spannungsbögen auf, welche dann plötzlich abbrechen, indem die Bass Drum einsetzt in einem Four-to-the-floor Groove. In der klassischen Musik hat die Kadenz der Akkorde I-IV-V-I einen Spannungsverlauf. Auch gibt es dort längere Spannungsentwicklungen wie beim EDM. Unser Gehirn synchronisiert sich dabei mehr und mehr, hin zu einem erwarteten Spannungshöhepunkt, um dann wieder zu de-synchronisieren.

Abb. 3: EEG Messungen der Synchronisation des Gehirns mit dem klimaktischen Aufbau elektronischer Tanzmusik. Die Synchronisation (oben) korreliert mit der Amplitudeninformation (2. von oben). Darüber hinaus lassen sich fraktale Dimensionen (3. von oben) und die Spektralen Zentroiden (unten) der Zeitreihe berechnen.

Oben rechts im Bild sehen wir die mittels EEG gemessene Synchronisation des Gehirns bei einem Menschen, der ein EDM Stück hört. Die Kurve entspricht dem Spannungsverlauf des Stücks, was sich in den Analysen des Stücks zeigt, wie sie darunter dargestellt sind. Die Amplitude entspricht dabei der Lautstärke, die Fraktale Dimension der Komplexität und der Spektrale Zentroid der Helligkeit des Stücks. Auf der linken Seite sehen wir die Netzwerke im Gehirn, welche während des Stücks synchronisieren. Diese sind sehr komplex und wechseln häufig.

Die Physical Culture Theory, die Physical Modeling als Methode verwendet modelliert diese Interaktionen mathematisch mittels einer Impulse Pattern Formulation (IPF). Diese nimmt Energieimpulse an, welche zwischen den Akteuren eines Systems hin- und herlaufen. Ausgehend von einem Standpunkt innerhalb des Systems wird ein Impuls ausgesandt, kommt bei anderen Akteuren an, wird von diesen komplex verarbeitet oder abgeschwächt, kehrt zum Ausgangspunkt zurück und veranlaßt diesen wiederum, einen neuen Impuls auszusenden.

Abb. 5: Interaktion der einzelnen Gitarrenkomponenten
Vid. 4: Gitarre, die mit Magneten bestückt wurde. Transiente Messung mittels Laserinterferometrie

Dies kann man bei einer Geigensaite beobachten. Wird der Bogen von der Saite gerissen entsteht ein Impuls, welcher wich auf der Saite ausbreitet, an den Enden reflektiert wird und zum Bogen zurückkommt. Dort reißt er den Bogen erneut ab und so entsteht ein Impulsmuster, der Geigenton.

Vid 5: Physical Model der Schwingung einer mit Bogen angeregten Saite

Dabei ergeben sich komplizierteste Muster im System, man nennt sie Bifurkationen, bi-stabile Zustände oder Chaos. Aber ein System kann sich auch auf einen stabilen Zustand ‚einigen‘.  Das Ergebnis ist oft eine chaotische und kaum zu überblickende Impulsfolge.

Das Bifurkationsregime der logistischen Gleichung wird oft mit der Population von Hasen erklärt. Man geht hierbei davon aus, dass die Population ab einer bestimmten Wachstumsrate über die Zeit keinen stabilen Grenzwert mehr bildet, sondern zwischen mehreren Grenzwerten schwankt. Mit steigender Wachstumsrate nimmt hierbei die Anzahl der möglichen Grenzwerte immer weiter zu, die Hasenpopulation nimmt also über die Zeit verschieden stark zu oder ab. Schließlich gehen die Zustände ins Chaos über, einen Bereich, in dem die Hasenpopulation über die Zeit beliebig zu oder ab nimmt. Im musikalischen Kontext gibt es Parameter, wie den Anblasdruck bei Blasinstrumenten, die erhöht werden können und somit Verhaltensweisen zeigen, die ebenfalls mit der logistischen Gleichung erklärt werden können.
Abb. 6: Bifurkationsregime einer Impulse Pattern Formulation. Links dargestellt erkennt man, dass es für kleine Parameterwerte 1/alpha nur ein stabiler Fixpunkt existiert, welcher bei 2.0 in zwei alternierende Häufungspunkte übergeht. Bei ca. 2.4 geht der Zustand ins Chaos über.
Abb. 7: Beispiel einer Impulse Pattern Formulation (IPF)
Abb. 8: Weiteres Beispiel einer IPF

Überraschender Weise kann es aber auch dazu führen, dass sich dieses chaotische System selber ordnet. Dann kann es auch vorkommen, daß wenige verschiedene Phänomene gleichzeitig oder sich wiederholend hintereinander auftreten. Solche Zustände nennt man Bifurkationen, welche in der Musik häufig auftreten, etwa bei Multiphonics in Blasinstrumenten oder bei einer rauhen Stimme. Das System kann sich aber auch auf einen einzigen stabilen Zustand ‚einigen‘. Dann nennt man das System selbstorganisiert. Selbstorganisation ist auch die Erklärung für Leben überhaupt. Leben erhält sich durch selbst durch eben diese Mechanismen der Selbstorganisation. So ist z.B. auch für die NASA Selbstorganisation der wichtigste Bestandteil der Definition von extraterrestrischem Leben.

Auch Musikinstrumente sind selbstorganisierende Systeme, welche durch von Impulsmustern funktionieren. Die Kraftübertragung einer Gitarrensaite auf die Decke ist ein kurzer Energieimpuls, welcher sich periodisch wiederholt.

Vid. 6: Highspeedaufnahme einer Gitarrenseite. Der bei Anregung über die Saite laufende Impuls wird sichtbar
Vid. 7: Highspeedaufnahme von Hammer und Saite eines Pianos

Bei Blasinstrumenten sendet das Mundstück einen kurzen Druckimpuls in das Rohr, welches das Rohr hinunterläuft, am Ende reflektiert wird, zum Mundstück zurückläuft und dort einen neuen Impuls generiert. Bei Musikinstrumenten sind die chaotischen Zustände die Einschwingvorgänge, während der stabile Zustand der Ton ist. Musik besteht so aus einem ständigen Wechsel aus Chaos und Ordnung.

Vid. 8: CFD Simulation der Vortexbildung im Mundstück eines Saxophons.